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Lesekreis vom 13. 05. 2019

"Armut"

Alle TeilnehmerInnen sollten das Buch von Dominik Bloh lesen, das vom Schicksal eines jungen Mannes handelt, der in Deutschland auf der Straße leben musste.

Unter Palmen aus Stahl: Die Geschichte eines Straßenjungen

Das Elternhaus war schwierig, und als die Großmutter starb, folgte der freie Fall. Dominik Bloh war noch ein Teenager, als seine Geschichte auf den Straßen Hamburgs begann. Mehr als ein Jahrzehnt schlief er immer wieder auf Bänken oder Brücken – und versuchte, trotz Hunger, Kälte und Einsamkeit ein Maß an Normalität aufrecht zu erhalten. Zwischen Schule, Hiphop und Basketballplatz.

In „Unter Palmen aus Stahl“ erzählt Dominik Bloh, Jahrgang 1988, in eigenen Worten, wie das Leben ganz unten in Deutschland spielt. Und wie er sich herausgekämpft hat. Ein Buch, das auch vom Mut handelt und von der Courage, sich und sein Leben zu ändern. Dominik lebt heute in einer kleinen Wohnung und hat einen Job.

Danach wurde über die Ursachen und die verschiedenen Formen von Armut und über Lösungsmöglichkeiten diskutiert. Grundlage dafür war das Buch des argentinischen Journalisten Martin Caparros : "Hunger" 

Alle zwölf Sekunden stirbt irgendwo auf der Welt ein Kind unter fünf Jahren an den Folgen von Unterernährung. Das sind drei Millionen Kinder im Jahr. Insgesamt knapp neun Millionen Menschen. Jedes Jahr. Wir wissen das, wir kennen die Zahlen. Der Hunger ist, so heißt es, das größte lösbare Problem der Welt. Eine Lösung ist allerdings nicht in Sicht. Und das ist eine Schande.

Fünf Jahre hat Martín Caparrós den ganzen Globus bereist, um diese Schande zu kartografieren: Er war in Niger, wo der Hunger so aussieht, wie wir ihn uns vorstellen; in Indien, wo mehr Menschen hungern als in jedem anderen Land; in den USA, wo jeder Sechste Probleme hat, sich ausreichend zu ernähren, während jeder Dritte unter Fettleibigkeit leidet; in Argentinien, wo Nahrungsmittel für 300 Millionen Menschen produziert werden, obwohl sich viele Bürger kein Fleisch mehr leisten können. Am Ende dieser Reise steht ein einzigartiges Buch: Großreportage, Geschichtsschreibung und wütendes Manifest.

In diesem Buch findet man folgende Fakten:

Der 1957 in Buenos Aires geborene Schriftsteller Martín Caparrós hat fünf Jahre die Welt bereist, um sein Inventar des Hungers zu schreiben. Er hat ihn in allen seinen Erscheinungsformen gesehen:
• Niger: Hier sieht der Hunger so aus, wie man ihn sich vorstellt.
• Indien: Hier hungern mehr als in jedem anderen Land der Welt.
• USA: Jeder sechste habe Probleme, sich ausreichend zu ernähren, während jeder dritte fettleibig sei.

FAKTEN
• Offiziell arm ist, wer weniger als 1,25 $ pro Tag zur Verfügung hat.
• Die Erde böte Nahrung für 12 Milliarden Menschen.
• 4 Milliarden Tonnen Lebensmittel werden jährlich produziert, 30%, 1,2 Milliarden Tonnen, landen auf dem Müll.
• Der Wehretat der USA betrug 2014 1,67 Milliarden $ pro Tag, das wären 2 $ am Tag für jeden der 0,8 Milliarden Hungernden.
• Die Landwirtschaft macht 6,6% des Bruttoweltproduktes aus, beschäftigt aber 32% der Erwerbstätigen.
• Mit 10 kg Getreide kann man entweder 1kg zehnmal an Bedürftige geben oder 1kg Fleisch herstellen.
• Der Fleischkonsum im Westen liegt bei 80 kg pro Person und Jahr, in China bei 30 kg (früher noch 14 kg)
• Ein US-Farmer produziert je Hektar Anbaufläche 2000-mal mehr als ein Bauer in der Sahelzone.
• Es ist unwahr, dass die Sahelzone sich nicht selber ernähren könnte.
• 1970 gab es 90 Millionen Unterernährte in Afrika, 2010 bereits mehr als 400 Millionen.
• Niger, das zweitgrößte Uranförderland der Welt ist bettelarm. Die Förderung kontrolliert Frankreich.
• Der IWF "überredete" die afrikanischen Staaten zur Aufgabe ihrer landwirtschaftlichen Subventionen.
• Die europäischen Staaten und die USA gewähren in ihren Ländern landwirtschaftliche Subventionen.

RELIGION
In allen Hungerquartieren ist Caparrós auf eine eigentümliche Schicksalsergebenheit gestoßen. Es sei Gottes Wille, hört er von Muslimen und Christen oder es sei eine gerechte Strafe für ein schlechtes Karma von hinduistischen Gläubigen. Er habe unter den Hungernden fast keinen Atheisten getroffen, resümiert der Autor. Sind die Armen also zu religiös und sind es die Reichen zu wenig, denn sonst wären die einen rebellischer und die anderen solidarischer?

ARMUT UND HUNGER …
… haben ein und dieselbe Ursache, stellt Caparrós fest. Sie seien Ausdruck desselben Raubzuges, derselben Plünderung. Hauptursache für den Hunger in der Welt sei der Reichtum: die Tatsache, dass einige wenige sich nehmen, was viele andere dringend benötigen, einschließlich der Nahrung.

Textabschnitte, die ich sehr interessant fand:

Pitirim Sorokin war ein russischer linker Intellektueller und schrieb 1922 ein Buch mit dem Titel „Hunger als Faktor“. Sein Werk gilt als die umfangreichste Abhandlung über den Hunger und seine Auswirkungen schlechthin. Seine Erscheinungsformen, seine Physiologie, seine Rolle als Triebfeder für Erfindungen und als Auslöser von Migrationsbewegungen, Kriegen, sozialen Umwälzungen, Kriminalität.

„Dem Hunger ist nichts heilig. Er ist blind und zermalmt gleichermaßen das Große wie das Kleine, Regeln und Überzeugungen, die sich seiner Stillung widersetzen. Sind wir satt, predigen wir die Unantastbarkeit des Eigentums, doch haben wir Hunger, werden wir, ohne mit der Wimper zu zucken, zu skrupellosen Dieben. Sind wir satt, halten wir es für undenkbar zu stehlen, töten, vergewaltigen, betrügen, hintergehen, uns zu prostituieren. Haben wir Hunger, sind wir zu allem fähig.“

Bereits 1766 veröffentlichte der englische Reverend Thomas Robert Malthus sein „Essay on the principle of Population“. Darin schreibt er über die Ursachen von Armut und Hunger: Es ist deshalb nie genug Nahrung für alle vorhanden, weil unsere Fähigkeit, uns fortzupflanzen, unsere Fähigkeit Nahrung zu produzieren, übersteigt – denn der Mensch in seiner Dummheit denkt nun mal zuerst an Sex und dann ans Essen. Die Armen sind also deshalb arm und verhungern, weil sie sich wie die Karnickel vermehren, ohne es sich leisten zu können. Aber Laster, Hunger und Elend sind laut Malthus die Hilfsmittel, mit denen die göttliche Vorsehung die Dinge wieder ins Lot bringt.

2007 hat die Welt demografisch eine epochale Schwelle überschritten: Zum ersten Mal in der Geschichte leben mehr Menschen in Städten als auf dem Land.

Über die große Hungersnot in Westeuropa zwischen 1031 und 1033 schrieb der fränkische Mönch Rudolfus Glaber: „Als es keine Tiere mehr gab, die man essen konnte, ernährten sich die Menschen, blind vor Hunger, von Aas und anderen unreinen Dingen. Der rächende Zorn Gottes gönnte ihnen aber keine Ruhepause: Drei Jahre lang war die Erde so feucht, dass man nicht eine einzige Furche ziehen konnte. Des Hungers Raserei hat dazu geführt, dass die Menschen Menschenfleisch essen. Reisende wurden von starken Männern angegriffen, die ihnen die Gliedmaßen abschnitten, sie brieten und aufaßen. Manche lockten Kinder mit einem Stück Obst oder einem Ei von der Straße fort, töten und verschlangen sie. Vielerorts grub man Leichen aus, um den Hunger zu lindern.

Die nächste große Hungersnot brach 1347 bis 1349 über Mitteleuropa herein. Am Ende raffte die Pest ein Drittel der geschwächten Bevölkerung Europas hinweg.

Die monotheistischen Religionen unterhalten eine intensive Beziehung zum Hunger: Sie machen das Fasten, das kontrollierte Hungern, zur Pflicht, um unter Beweis zu stellen, dass ein Gott und seine Schergen uns dazu bringen kann, etwas zu tun, was wir sonst nicht täten. Die Religion muss sich durchsetzen, indem sie sich dem Natürlichen widersetzt.

Ende der 1990er Jahre gab es eine Milliarde arbeitsloser oder unterbeschäftigter Arbeiter, die meisten davon im Süden. Das entspricht einem Drittel der Weltarbeitskräfte. 1,4 Milliarden Menschen, die extrem arm sind, leben von weniger als 1,25 Dollar pro Tag.  

In einer Welt, in der Maschinen wesentlich effizienter sind, sind Arbeit und Arbeitskräfte – Menschen – überflüssig. Kriege und Epidemien, die lange Zeit als Regulierungsmechanismen funktioniert haben, sind in den letzten Jahrzehnten seltener geworden. Die Menschen leben länger, die Kindersterblichkeit ist geringer: Wir sind einfach zu viele. Zum ersten Mal ist ein Sechstel oder ein Fünftel der Weltbevölkerung überflüssig. Weil es nicht gut ankäme, wenn man sie einfach sterben ließe, erhält man sie gerade so am Leben, sie nagen am Hungertuch, aber sie sterben nicht den Hungertod.

Die beste Variante für die reichen Länder wäre, wenn die überflüssigen Menschen der Anderen Welt aus eigener Kraft überleben würden. Sollen sie ihre Zebus hüten und ihre kleinen Gärten bewirtschaften. Es gibt ja auch Böden, mit denen man eh nicht viel verdienen kann. Und wenn alle Stricke reißen, schickt man ihnen einen Sack Getreide.

Eine andere Möglichkeit: Die Arbeiterinnen von Dhaka sind in die Weltwirtschaft integriert. Sie werden ausgebeutet, damit man in der Ersten Welt billige Kleidung verkaufen kann.

Natürlich gibt das System nicht auf und entdeckt immer wieder neue Verwendungsmöglichkeiten für die Überflüssigen: wie die indischen Kliniken, die arme Frauen als Leihmütter unter Vertrag nehmen. In Indien bekommt man ein Baby auf von einer Leihmutter ausgetragen schon um 15 000 Dollar. In den USA müsste man dafür 100 000 Dollar bezahlen. In den hübscheren indischen Kliniken erinnert das System zunehmend an die klassische Fließbandproduktion. Man passt auf die Mädchen auf, dass sie sich gesund ernähren und so werden sie in Gemeinschaftsunterkünfte gebracht, wo sie nichts anderes tun, als Nachwuchs produzieren. In aller Ruhe, wohlgenährt.

Die Meinung des Autors zum Thema Hunger:

Es gibt viele Gründe, warum Menschen hungern. In den Medien wird meist nur ein Grund herausgestellt, sei es eine Dürrekatastrophe, ein Bürgerkrieg, eine Ungleichverteilung von Haben und Nichthaben, usw. Im Jahr 2002 gab die EU pro Kuh 2 Dollar Agrarförderung pro Tag. Mehr als 700 Millionen Menschen mussten aber im gleichen Jahr von weniger als 1,25 pro Tag leben. Der Autor ist der Ansicht, dass die Nahrungsmittelspenden der reichen Länder die Landwirtschaft der armen gänzlich ruinieren. Sie reichen aber aus, um die armen Menschen ruhig zu halten. Und vor allem dienen sie der eigenen Agrarindustrie, die mit enormen Subventionen bei der „politischen Stange“ gehalten wird. All die Großspender wie Bill Gates und seine Kollegen, geben nur deshalb, weil sie das System nicht ändern wollen. Die Reichen und Landbesitzer wollen mit den armen, landlosen Bauern nicht wirklich teilen. Da schenken sie lieber ein paar Säcke voll Hirse, Weizen oder Mais.

Das Problem der Armut und des Hungers wäre nur durch eine radikale Änderung des Wirtschaftssystems und des menschlichen Charakters zu lösen.